In den letzten rund 15 Jahren zeigte sich eine frappante Gleichläufigkeit zwischen Börsen- und Reputationsentwicklung der SMI-Unternehmen. Stieg die Reputation, stieg auch der Aktienindex – und vice versa. Seit rund einem Jahr ist diese Parallelität nun aber ausgesetzt. Dank Negativzinsen und Kursdoping in Form von Aktienrückkäufen ist der SMI im Vergleich zur Reputation seiner darin vertretenen Unternehmen mittlerweile deutlich überbewertet, weshalb eine grössere Korrektur an den Aktienmärkten eigentlich überfällig ist.
Die Situation an den Börsen war in der ersten Hälfte 2019 einigermassen paradox: Auf der einen Seite ein makroökonomisches und wirtschaftspolitisches Umfeld (Negativzinsen, Verschuldungsquote, Handelskonflikte, Brexit, Iran-Konflikt), welches von vielen Marktbeobachtern als bedrohlich oder zumindest sehr herausforderungsreich beschrieben wird; auf der anderen Seite eine boomende Entwicklung an den Aktienmärkten: Die Börsen kannten vielerorts nur eine Richtung – so zum Beispiel mit sommerlichen Rekordhochs der wichtigsten Leitindizes sowohl in Amerika (Dow Jones im Juli) wie auch in der Schweiz (SMI im Juli und im September).
Seit Beginn August gibt es nun vermehrt Anzeichen, dass sich diese Paradoxie auflösen könnte – und zwar über eine deutliche Korrektur der Aktienmärkte. Sowohl Dow Jones wie SMI haben in den ersten Augusttagen deutlich nachgegeben, und dann – nach leichter, zwischenzeitlicher Entspannung – Mitte August noch einmal stark verloren. Diese Entwicklungen scheinen also die Erwartungen der skeptischen Marktbeobachter zu bestätigen.
Obwohl in der zweiten Augusthälfte wieder eine Erholung eingesetzt hat, stellt sich dennoch die Frage: Wohin geht die Reise in den nächsten Monaten? Das Nachrichtenportal des Schweizer Fernsehens sah am 15. August 2019 eine Rezession am Horizont: «Eine Rezession ist wohl unausweichlich». Am selben Tag hörte auch der Wirtschaftsdienst Bloomberg («Alarm Bells Are Ringing Louder in Bond Markets»), gleich wie die NZZ ein paar Tage später («Die Alarmglocken der Finanzmärkte läuten immer lauter»), die Alarmglocken eine Stufe lauter läuten.
Stehen wir also tatsächlich an der Schwelle eines grösseren Börsen-Crashs respektive gröberen wirtschaftlichen Verwerfungen oder handelt es sich bei den Entwicklungen der ersten Augusthälfte lediglich um eine längst überfällige und somit normale Korrektur? Wir wissen es noch nicht – wir können aber spekulieren! Oder um es weniger hasardierend zu formulieren: Wir können versuchen, die Eintretenswahrscheinlichkeit von gewissen Szenarien – wie einer Wirtschaftskrise bzw. Rezession – abzuschätzen.
Erwartungen als zentrales Bindeglied zwischen Reputation und Börsenentwicklung
Dafür brauchen wir allerdings Indikatoren. Ökonomen deuten beispielsweise das aktuelle Auftreten einer inversen Zinskurve (Indikator) als wahrscheinliches Signal für eine einsetzende Krise (Szenario): «US-Zinskurve kippt – Stärkstes Rezessionssignal seit der Finanzkrise» (Handelsblatt, 14. August 2019).
Die Erfahrung zeigt nun, dass auch nicht-ökonomische Indikatoren die Funktion als Frühwarnsystem für Krisen übernehmen können. Wie wir in unserer Forschung wiederholt gezeigt haben, ist insbesondere die (medienvermittelte) Reputation ein sehr valider Indikator, um die Entwicklungen realer ökonomischer Kennzahlen vorausschauend zu antizipieren (vgl. dazu Reputation und Konjunkturverlauf und Reputation als Wertschöpfungsfaktor). Reputation hat demnach auch die Funktion als Frühwarnindikator.
Die von commsLAB AG und dem fög – Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich praktizierte Reputationsmessung erfolgt über den so genannten Sedimented Reputation Index® (SRI®). Dabei werden die medienvermittelten Bewertungen zu relevanten wirtschaftlichen Akteuren erfasst und unter Berücksichtigung einer Vergessensrate auf Tagesbasis verrechnet.
Der SRI® dient somit der Modellierung der historisch gewachsenen, im öffentlichen Gedächtnis verankerten Reputation und erlaubt die Darstellung von langfristigen Reputationsentwicklungen zu einzelnen Unternehmen, Sektoren oder gesamten Volkswirtschaften.
In Abbildung 1 (unten) wurde nun die Entwicklung des Börsenindex SMI sowie die aggregierte Reputation sämtlicher im SMI geführten Unternehmen (unter Berücksichtigung der wechselnden Zusammensetzung des SMI) abgetragen. Die Darstellung zeigt auf den ersten Blick eine frappante Gleichläufigkeit zwischen Börsen- und Reputationsentwicklung. Grundsätzlich gilt: In Phasen mit steigendem SMI finden wir auch steigende Reputationswerte (z.B. zwischen 2012 bis 2014, und 2016 bis 2017); und in Perioden mit sinkendem SMI reduzieren sich auch die Reputationswerte (z.B. zwischen 2007 bis Anfang 2009, und 2015). Woher rührt diese Parallelität?
Die Abbildung zeigt die sedimentierte Reputationsentwicklung (SRI®) der jeweils im SMI vertretenen Unternehmen (goldene Kurve) und vergleicht diese mit der effektiven Börsenentwicklung des SMI Preisindex (blaue Kurve).
Um einen Einwand gleich vorweg auszuräumen: die Aktienentwicklung selbst macht in aller Regel nur einen geringen Teil der Berichterstattung über ein in der Öffentlichkeit stehendes Unternehmen aus. Die Gleichläufigkeit kann also nicht einfach damit erklärt werden, dass positiv oder negativ über eine ohnehin positive oder negative Börsenentwicklung berichtet wird, sondern hat einen deutlich komplexeren Ursprung.
Zentrales Bindeglied zwischen den beiden Parametern sind vielmehr die an ein Unternehmen gerichteten Erwartungen. Während im Aktienkurs sämtliche verfügbaren Informationen vorweggenommen resp. durch die Erwartungshaltung der Marktteilnehmer bereits im Kurs eskomptiert sind, spiegelt der Reputationswert die öffentlich geäusserten Erwartungen an ein Unternehmen respektive er reflektiert den Grad, in welchem diese erfüllt oder enttäuscht wurden. Und dies eben nicht nur in für den Finanzmarkt relevanten Fragestellungen wie finanzieller Performance und Gewinnerwartung, sondern auch in gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen.
Dreh- und Angelpunkt ist somit das Vertrauen, das Unternehmen in der Erfüllung von funktionalen und sozialen Erwartungen entgegengebracht wird. In aller Kürze ausgedrückt: Reputation ist Ausdruck von Vertrauen (wem nicht vertraut wird, der geniesst auch keine gute Reputation); gleichzeitig ist Vertrauen entscheidend für unser Investitionsverhalten (wem nicht vertraut wird, bei dem wird auch nicht investiert).
Kluft zwischen Börse und Reputation dank Negativzinsen und Kursdoping
Seit rund einem Jahr ist diese Parallelität zwischen Börsen- und Reputationsentwicklung der Schweizer Unternehmen nun aber ausgesetzt. Während die Reputationsentwicklung der SMI-Unternehmen seit Mitte 2018 gesamthaft deutlich nach unten zeigt, sind die Aktienkurse im Jahr 2019 rasant gestiegen – eine in diesem Ausmass einmalige Konstellation in den letzten rund 15 Jahren! Dass dem so ist, mag zunächst mit denselben Gründen erklärbar sein, die Marktbeobachter für die Divergenz zwischen positiver Aktienkursentwicklung und kritischem Umfeld verantwortlich machen.
- Erstens, das anhaltende Negativzinsumfeld. Weil rentable Anlagealternativen fehlen, fliesst überproportional viel Kapitel in die Aktienmärkte, um so wenigstens von den in den letzten Jahren stark gestiegenen Dividendenzahlungen der Unternehmen zu profitieren.
- Zweitens, eine Häufung von Aktienrückkaufprogrammen. Wie Daten von Vontobel zeigen, haben Schweizer Unternehmen in den Jahren 2018 und 2019 vermehrt Aktienrückkäufe vorgenommen, um ihre Aktionäre bei Laune zu halten.
Nimmt man den aktuellen Gap zwischen Börsen- und Reputationsentwicklung zum Massstab, scheinen die Rückkaufprogramme ihre Wirkung – massgeblich unterstützt durch das umfassende Negativzinsumfeld – tatsächlich nicht zu verfehlen; sie wirken gleichsam als „Kursdoping“ (Echo der Zeit SRF, 18.2.2019), da sich das Aktienangebot dadurch verknappt und sich der Gewinn pro Aktie erhöht. In Analogie zum Doping im Sport, wird also auch hier die eigentliche Leistungsfähigkeit – in Form der Attraktivität für Investoren – ‚aufgespritzt‘. Und wie beim Sport stellt sich auch hier die Frage: Wie grossflächig grassiert dieses Verhalten und wie lange kann dies gutgehen?
In welchem Umfang der SMI durch die Rückkaufprogramme gestützt wird, lässt sich zwar kaum konkret beziffern, Abbildung 2 gibt aber zumindest einen Anhaltspunkt über das Ausmass der erzielten Überbewertung: Die Grafik zeigt, dass die Überbewertung der Aktienkurse gemessen an der Reputation Mitte 2019 einen absoluten Höchststand erreicht hat. Noch nie in den letzten 15 Jahren war der SMI im Vergleich zur Reputation seiner darin vertretenen Unternehmen derart stark überbewertet. Zudem hat sich diese Überbewertung in nur sehr kurzer Zeit aufgebaut.
Ähnlich hoch war die Überbewertung einzig Ende 2014 (kurz vor der Aufhebung des Franken-Mindestkurses durch die SNB); damals war aber immerhin die Parallelität zwischen Börse und Reputation noch gegeben, denn in den Jahren vor 2014 hatten auch die Reputationswerte zugelegt – einfach weniger stark als die Börsenwerte.
Die Abbildung zeigt, ob die Aktienkurse gegenüber der sedimentierten Reputation über- oder unterbewertet sind. Berechnet wurde dies wie folgt. Die Daten für SMI und Reputation werden zuerst am jeweiligen Mittelwert indexiert: Liegt ein Wert zu einem Zeitpunkt über oder unter dem langjährigen Durchschnitt? In einem zweiten Schritt werden die indexierten Werte von SMI und Reputation mit einander verrechnet: Negative Werte indizieren, das die Reputation vergleichsweise überdurchschnittlich abschneidet, während positive Werte – gemessen an der Reputation – überbewertete Aktienkurs anzeigen.
Aktives Erwartungsmanagement seitens Unternehmen als volkswirtschaftlicher Beitrag
Eine Situation, in welcher die Unternehmen gemessen an dem in sie gesetzten Vertrauen an den Börsen derart überbewertet sind, lässt langfristig keine stabile Entwicklung zu. Ein Austarieren dieses Ungleichgewichts kann theoretisch in zweifacher Weise erfolgen:
So ist es denkbar, dass die Unternehmen in der Öffentlichkeit unerwartet rasch wieder mit positiveren Narrativen in Verbindung gebracht werden und dadurch an Reputation zulegen können; ein zwar nicht gänzlich ausgeschlossenes, aber – wie die Historie beweist – doch eher unwahrscheinliches Szenario. Deutlich wahrscheinlicher ist es deshalb davon auszugehen, dass eine grössere Korrektur an den Aktienmärkten überfällig ist. Will heissen, die aufgedopten und damit vielfach unrealistischen Markterwartungen werden sich über kurz oder lang entladen müssen, um wieder erwartungskonformeren Aussichten Platz zu machen.
Darauf zu setzen, dass diese Entladung durch eine Remedur der nach der Finanzkrise einsetzenden Politik des billigen Geldes erfolgen wird, dürfte sich auf absehbare Zeit wohl nicht erfüllen. Umso mehr liegt es im Grundinteresse jedes einzelnen Unternehmens, die im System aufgeblähte Luft massvoll abzulassen respektive alles zu tun, um unkontrollierbaren Verwerfungen möglichst vorzubeugen.
Will heissen, die zu hohen und durch die Nullzinspolitik kontaminierten Erwartungen im Markt müssen mittels gezieltem Erwartungsmanagement adjustiert werden. Oder anders formuliert: Soll die eigene Überlebensfähigkeit langfristig abgesichert werden, braucht es nun seitens der Unternehmen die ultimative Bereitschaft, überzogene Markterwartungen öffentlich zu korrigieren und damit in der Konsequenz auch überproportionale Kursverluste in Kauf zu nehmen. Damit würde das Unternehmen echte volkswirtschaftliche Verantwortung für all jene Standorte übernehmen, an denen es durch die Schaffung von Arbeitsplätzen und Steuersubstrat konkret engagiert ist und langfristig auch weiter bleiben will.